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Charkiw entgleitet den Rebellen

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von Leonid Ragosin, Bloomberg, 23. Oktober 2014

Das Büro von Ihor Baluta, dem Gouverneur der Region Charkiw, liegt in einem Gebäude aus der Stalin-Ära und geht auf den 30 Hektar großen Platz der Freiheit – einem der größten Plätze in Europa und das Zentrum von Charkiw, der zweitgrößten Metropole der Ukraine mit einer Bevölkerung von 1,5 Millionen. In der Sowjetzeit trug der Platz den Namen des Gründers der UdSSR-Geheimpolizei.

Heute steht am anderen Ende des Platzes ein Granitsockel mit nur noch einem riesigen Schuh aus Bronze, aus dem eine ukrainische Flagge herausragt. Der Schuh gehörte zu einer 28-Meter hohen Leninstatue, die von 1964 bis zum 28. September 2014 hier stand. In dieser Nacht stürzten ukrainische Nationalisten und rechtsradikale Fußballanhänger das Denkmal, die Polizei wollte sich lieber nicht einmischen. Baluta war für die Entfernung der Statue, die Sammelpunkt für prorussische separatistische Kundgebungen war. Aber er hätte einen zivilisierteren Ansatz vorgezogen. Auf die Frage, ob eine Mehrheit der Stadt dafür war, dass Lenin weg muss, sagt er “Nein. Aber es gab hinterher kaum Protest, was ja sehr aufschlussreich ist.”

Am Vorabend der ukrainischen Parlamentswahlen, während der Krieg zwischen der Armee der Nation und pro-russischen Separatisten im östlichen Teil des Landes schwelt, ist die Stadt Charkiw in einem unruhigen Frieden wohl oder übel mit der Ukraine  verbunden. Die überwiegende Mehrheit spricht Russisch im Alltag: Russland ist nur 40 km entfernt. Die Stadt ist nicht weit von Donezk und Luhansk, den Epizentren der Kämpfe – trotz eines brüchigen Waffenstillstands. Obwohl Charkiw von den Kampfhandlungen verschont blieb, ist es doch durch den Krieg in Mitleidenschaft gezogen worden. Soldaten auf einem kurzen Fronturlaub, in ihren eigenen Autos Nachschub in das Kriegsgebiet liefernde Freiwillige und Tausende Flüchtlinge sind Teil der Stadtlandschaft.

Jüngste Umfragen deuten auf eine eher geringe Wahlbeteiligung in Charkiw bei der Wahl am 26. Oktober – die Wähler Stadt sind verwirrt, was Loyalität und Identität angeht. Trotz dieser Unklarheiten bleibt Charkiw fest mit der Regierung in Kyiw verbunden. Seit seinem Amtsantritt nach der Februarrevolution beaufsichtigt Baluta eine Region, die das prorussische Regime von Wiktor Janukowytsch kräftig unterstützt hatte. Balutas Vorgänger Michaylo Dobkin war ein ausgesprochener Befürworter von Janukowytsch und ein Gegner der proeuropäischen Demonstranten in Kyiw. Dobkins Gesicht ziert Dutzende von Werbetafeln im Zentrum von Charkiw, wo er als Teil des Oppositionsblocks für das Parlament kandidiert – einer Partei, deren Mitglieder Verbindungen zu dem früheren Regime haben. Umfragen deuten darauf hin, dass seine Chance, mehr als die nötigen 5 % der Stimmen zu bekommen, um ins Parlament gewählt zu werden, ziemlich gering sind.

Charkiw stand im vergangenen Frühjahr kurz davor, auch vom Krieg verschlungen zu werden. Gegen Mitternacht des 6. April verbarrikadierte sich Baluta sich in seinem Amt, als Separatisten den größten Teil des Hauptregierungsgebäudes besetzten. Ein Mob draußen warf Steine in die Fenster, einer davon landete auf dem soliden Eichenschreibtisch des Gouverneurs. Der Kratzer ist immer noch da. Baluta hat es schließlich geschafft, durch eine Hintertür zu entkommen. In den frühen Morgenstunden stürmte Bereitschaftspolizei aus der Zentralukraine das Gebäude, das von den Separatisten angezündet worden war. In Donezk und Luhansk gelang den Rebellen die Eroberung von Regierungsgebäuden – und sie konnten sie besetzt halten, daraus wurden die Hochburgen des Aufstands. “Es geschah alles zur gleichen Zeit, nach dem gleichen Szenario. Aber hier in Charkiw haben wir uns für entschlossenes Handeln entschieden,” sagt Baluta.

Die Regierung säuberte zügig die Charkiwer Polizei und die örtliche Niederlassung des SBU, des ukrainischen Sicherheitsdienstes, in dem viele Sympathisanten Russlands waren . Als die Separatisten am 22. April einen erneuten Aufstand versuchten, schlug die jetzt verlässliche örtliche Polizei den Aufstand nieder. Artjom Litowtschenko, ein in der Separatistenbewegung aktiver Soziologe, sagt, die Niederlage seiner Freunde war eine Folge des schnellen Schlags der Behörden und eine Demonstration der Stärke, wodurch die örtlichen Beamten und Sicherheitsbeamten eingeschüchtert wurden, denn sie waren unsicher, welche Seite sie einnehmen sollte. “Es war sehr wichtig, dass die Behörden , anders als in Donezk, die Waffen aus der SBU-Depot entfernt hatten,” sagt er. In Donezk schlossen sich nach Litowtschenkos Worten der SBU-Kommandant und seine Anhänger den Rebellen an (inklusive ihrer Gewehre).

Baluta sagt, man habe in den folgenden Monaten “als Vorbeugemaßnahme mit den meisten aktiven Separatisten Gespräche geführt, woraufhin einige ihre Ansichten änderten, andere flohen, und wieder andere im Gefängnis landeten, wo sie auf ein faires Verfahren warten”.

Proukrainische Aktivisten mussten nach einer Reihe von Angriffen durch prorussische Ganoven im April fast in den Untergrund gehen. Jetzt stehen sie an der Spitze der lokalen Politik und der Unterstützungsbemühungen für die Armee. Viele Menschen aus der russischsprachigen Mittelklasse und der Bildungsschicht haben sich als ukrainische Patrioten neu erfunden. Oleksandr Mamaluj, ein Richter am Gericht in Charkiw, der schon in hochkarätigen Fällen gegen die reichsten Charkiwer Vorsitzender Richter war, patrouilliert jetzt als Scharfschütze rund um den Donezker Flughafen, der seit Wochen auf heftigste umkämpft ist. In der korrupten Ukraine sei es einfach für einen Richter, einem Einberufungsbefehl auszuweichen, sagt Mamaluj. Aber er meldete sich freiwillig für einen Trupp von Scharfschützen, auch wenn ihm ein schrecklicher Tod droht, falls der Feind ihn gefangennimmt. “Von den Scharfschützen in meinem Zug sind sechs gefallen. Ich hoffe, dass keiner von ihnen lebend gefangengenommen wurde,” sagt er.

Mamaluj sagt, er sei nie ein “Super-Ukrainer” gewesen. Aber Russlands Annexion der Krim hat alles geändert. Die Halbinsel war der Urlaubsort für Generationen von Ukrainern und Russen, die einst friedlich vermischt dort Urlaub machten. “Nationalistische Ideen waren mir fremd, gelinde gesagt,” sagt er. “Aber als die Russen die Krim eroberten – meine ganz persönliche Krim, die ich in- und auswendig kannte – sagte ich mir, jetzt muss ich dagegen kämpfen.”

Autor: Leonid Ragosin

Quelle: Bloomberg, 23. Oktober 2014

Übersetzung: Euromaidan Press auf Deutsch

Titelbild: Aktivisten stürzen das größte Lenin-Denkmal der Ukraine auf dem Hauptplatz von Charkiw – Foto: Igor Chekachkov / AP Photo

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