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Timothy Snyder: Ukraine als Gegenmittel zu Europas Faschisten?

Autor: Timothy Snyder (bekannter Osteuropa-Historiker und Publizist)
Quelle: The New York Review of Books, 27. Mai 2014 – Übersetzung

Pierre Andrieu / AFP / Getty Images Eine Kundgebung für Frankreichs rechtsextreme Front National, Paris, Frankreich, 1. Mai 2014

Europa hat ein Problem, und die Ukraine könnte die Lösung sein.

Bei den Wahlen in Europa am [vergangenen] Sonntag für das Europäische Parlament war die Wahlbeteiligung niedrig (43 Prozent) und die anti-europäische Rechte erreichte erhebliche Gewinne, vor allem in Frankreich, wo die ‘Front National’ 25 Prozent der Stimmen erhielt. Bei den Wahlen, die am selben Tag für die ukrainische Präsidentschaft stattfanden, lag die Wahlbeteiligung hoch (61 Prozent), der siegreiche Kandidat wurde von einer Pro-EU-Plattform getragen, und die rechtsextremen Kandidaten (2 Prozent) wurden von allen geschlagen, darunter auch von einem jüdischen Kandidaten. Wenn die Europäer denselben Weg wie die Ukrainer gewählt hätten, könnte Europa auf eine weitaus sicherere und wohlhabendere Zukunft blicken.

Ein Grund für dieses Debakel ist die alternative Realität, in der viele Europäer im Jahr 2014 leben. Auf der europäischen Linken, insbesondere der deutschen Linken (insbesondere die Partei “Die Linke”), gehört die Kritik am angeblichen Faschismus der post-revolutionären Regierung in der Ukraine zum guten Ton. Keine noch so große Menge von Informationen und Argumentation war in der Lage, diese fixe Idee zu verändern. Es kann nur gehofft werden, dass diese Wahlergebnisse einige Augen öffnen – denn sie haben dem Europäischen Parlament eine griechische Partei, die offen neonazistisch, sowie eine ungarische Partei, die eindeutig antisemitisch ist, beschert. Die Europäische Linke hat ein echtes Problem, und es sind nicht die ukrainischen Rechtsextremen. Es sind die europäischen Rechtsextremen, die derzeit populär zu sein scheinen und von den russischen Rechtsextremen unterstützt werden, die in Moskau derzeit an der Macht sind.

Inzwischen besteht das Märchen im Angebot der europäischen Rechtsaußenparteien in diesem Jahr aus dem Nationalstaat. Wenn nur Schottland oder England oder Frankreich oder Österreich oder Griechenland oder Bulgarien endlich frei von den aufdringlich europäischen Bürokraten wären, dann wäre das Leben wieder normal, und alles werde wieder gut werden. Alles würde aber nicht gut werden. Es ist ganz natürlich, dass man sich über ferne Bürokraten, die die lokalen Gegebenheiten nicht verstehen, beschwert. Aber es ist eine ganz andere Sache, die normalen Frustrationen eines großen Gemeinwesens mit einem politischen Programm zu verwechseln. Der Nationalstaat ist eine Utopie. Es gibt keinen Weg zurück zu ihm. Europäer, die glauben, dass Desintegration eine gute Idee sei, sollten die Geschichte der 1920er und 1930er Jahre zu Rate ziehen. Oder die Ukrainer fragen, die mit einer russischen Annexion der Krim und von Russland unterstützten Aggression in ihrer südöstlichen Provinzen konfrontiert sind.

Die Führer der europäischen extremen Rechten werden – unterstützt durch eine in letzter Zeit zu Tage getretene Wuschelköpfigkeit [Verschwommenheit] eines Großteils der europäischen Linken – ihre Völker nicht zurück zum Nationalstaat führen (was unmöglich ist), sondern in Richtung der russischen Herrschaft über Europa. Trotz diverser Meinungsverschiedenheiten ist das nämlich ein Punkt, an dem die europäischen Populisten, Faschisten und Neonazis einig sind: Putin ist ein bewundernswerter Führer, dessen Vorstellungen von Europa solide begründet sind. Parteien wie die “Front National”, die britische UKIP, Italiens “Lega Nord”, “Vlaams Belang” in Belgien und Ungarns “Jobbik” stellen sich als Nationalisten dar und unterstützen die Politik eines Ausländers, der keinen Hehl aus seinem Ziel macht, dass er ihre Länder beherrschen will.

Der Verrat des Patriotismus durch die vermeintlichen Patrioten ist deutlich genug. Was den Verrat so grotesk macht, ist die tatsächliche Bilanz der Mächte. Europa ist weitaus stärker als Russland. Das Putin-Regime, das seine eigene Schwäche kennt, sucht Schutz vor China. Und deswegen wählen viele Europäer Menschen, die Europa in eine Abhängigkeit einer fremden Macht bringen wollen, die sich ihrerseits in Richtung China als seinen wichtigsten Verbündeten anlehnt. Es ist wohl fair zu sagen, dass nicht viele Wähler der europäischen extremen Rechten tatsächlich in Russland oder China leben wollen. Sie stimmen für eine Vorstellung von einer Teilung der Welt, und was ihre Führer ihnen zu geben glauben, ist die Integration in eine Welt, die ihnen viel weniger gefallen wird.

Die schockierenden Wahlergebnisse in Europa wird es in einigen Köpfe klar werden lassen, aber etwas viel Größeres wird nötig sein. Was wir in den zehn Jahren seit der letzten großen Erweiterung der EU gesehen haben – 2004 sind zehn neue Länder der EU beigetreten – ist, dass die Europäische Union nicht still stehen kann. Sie braucht Herausforderungen und sie braucht Perspektiven. Sie braucht die Energie und die Begeisterung der Menschen, die Freiheit und Ordnung nicht als selbstverständlich begreifen sondern bereit sind, sich dafür einzusetzen. In der ukrainischen Revolution kämpften die Menschen mit der EU-Flagge in der Hand; bei den ukrainischen Wahlen standen die Menschen stundenlang in der Schlange und hatten Symbole der EU dabei. Die Europäische Union hat sich seit ihrer Gründung als Europäische Gemeinschaft ständig vergrößert, und sie dies wird weiterhin tun und sollte es auch. Ein Versprechen auf eine weitere Erweiterung wäre nicht zu teuer, im Gegenteil würde durch die Anreize für Reformen und Investitionen die Notwendigkeit für die künftige Beihilfen geringer werden.

Die Ukraine braucht unterdessen Hilfe. Die Revolution begann als Protest gegen das alte Regime, das im letzten Moment abgelehnt hatte, ein wichtiges Handelsabkommen mit der Europäischen Union (als Assoziierungsabkommen bekannt) zu unterzeichnen. Diese Vereinbarung wird in Kürze in Kraft treten und helfen, als Vorlage für Reformen und durch besseren Zugang zu den EU-Märkten. Aber es ist bei weitem keine Vollmitgliedschaft in der EU. Hier ergibt sich eine Möglichkeit, die für beide Seiten billig, elegant, attraktiv und effektiv wäre.

Wenn die Europäische Union der Ukraine den formalen Status als EU-Beitrittskandidat zuerkennen und bekannt geben würde, dass sie in sagen wir 10 Jahren Vollmitglied werden könne, wenn sie die notwendigen administrativen und politischen Kriterien erfüllt, dann würden zwei Dinge sofort geschehen. Erstens hätte die Ukraine jetzt, wie es zuvor Polen und andere hatten, einen positiven Anreiz zur Beseitigung der Korruption, die große Geißel des Landes, da ja klar ist, was man im Gegenzug dazu bekommt. Zweitens würden internationale Investoren, darunter auch russische Investoren, die sich derzeit aus Russland zurückziehen, in die Ukraine kommen. Die wirtschaftliche Entwicklung, die dies für die Ukraine bringen würde, wäre von großem Nutzen für die EU, da sie die Ostgrenze stabilisieren und zugleich zeigen würde, dass die europäischen Werte nicht nur attraktiv sondern auch effektiv sind.

Europa braucht das, nicht so sehr, um andere daran zu erinnern, sondern auch um sich selbst daran zu erinnern.

Quelle: http://www.nybooks.com/blogs/nyrblog/2014/may/27/ukraine-antidote-europes-fascists/

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