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EUROMAIDAN UND EUROPA – Offener Brief an den Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Gemeinde St. Katharina Kiew, Ralf Haska

Ralf Haska: Den folgenden Brief erhielt ich von Freunden aus Dresden. Gute und wichtige Gedanken. 

Dresden, 2014-04-15

Angesichts der Ereignisse stellen wir uns immer mehr die Frage: Will der Westen die Ukraine überhaupt? Vor allem auch integrieren? Wollen wir wirklich helfen oder sind unsere Hilfspakete nicht letztendlich Selbsthilfe, weil wir hoffen, damit den Brandherd vor unserer Tür löschen zu können?

Diesen offenen Brief richten wir an Dich in der Hoffnung, dass Deine in diesen wirren Zeiten besonders glaubwürdige Stimme Wege finden kann, einige unserer nachfolgend aufgezeichneten Gedanken, die uns zu verbreiten wichtig sind, weitergeben kannst, zusammen mit der Botschaft, dass neben Dir und den Deinen noch viele sind, die nicht nur reden, sondern den Menschen in der Ukraine helfen wollen und werden.

Denkt an uns. Wir werden auf jeden Fall siegen, wie grausam die da auch vorgehen mögen. Die Ukrainer verteidigen heute buchstäblich mit eigenem Blut die europäischen Werte einer freien und gerechten Gesellschaft. Und meine Hoffnung besteht darin, dass Sie das zu schätzen wissen.“ Juri Andruchowytsch, Kiew, 24.01.2014

Willkommen, Ukraine

Von einem üblen Diktator habt Ihr Euch befreien können, liebe Ukrainer, Glückwunsch und willkommen am Busen Europas. Viele mutige Menschen mussten auf diesem bitteren Weg sterben, Tausende wurden verletzt, noch immer gibt es dutzende Vermisste, Oppositionelle, Journalisten, Aktivisten, ohne jegliches Lebenszeichen von ihnen.

Euer Aufstand fordert uns Hochachtung ab und von ganzem Herzen wünschen wir, dass dieser Kampf nicht umsonst war, sondern der Anbeginn einer Zukunft, in denen sich Eure Potentiale und Ressourcen in Frieden und Demokratie entfalten können.

Doch die Gegner einer solchen Entwicklung sitzen nicht nur in Moskau und noch an vielen ukrainischen Schaltstellen in Bürokratie, Politik und Wirtschaft. Sie sitzen auch mitten unter uns in Europa.

Eckhard Cordes, Vorsitzender des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft, sagt: „Länder wie die Ukraine oder Moldau können nicht zwischen zwei Wirtschaftsräumen entscheiden, sie müssen die Brücke bilden.“ Er steht nicht allein mit dieser Auffassung. Die Freiheit, selbst zu entscheiden, wohin die Ukraine gehen will, gestatten wir Euch, liebe Ukrainer, nicht. Brückenstaat müsst Ihr sein, basta!

Die Beendigung der fragilen staatlichen Stabilität einer russisch unterwanderten Autokratie durch den Euromaidan-Aufstand war sowieso unverantwortlich: „Ukraine-Krise schadet Deutscher Auto- Industrie“, „Börsen stürzen ab“, „Wie gefährlich die Ukraine-Krise für die Wirtschaft ist“ titeln die Gazetten und zeigen ungeschminkt Egoismus und Arroganz in Europa.

Wirtschaftskrise und Krieg werfen Ihre Schatten voraus: „Pulverfass Ukraine“, „Die brennende Lunte am Pulverfass der Weltfinanzkrise“! Liebe Ukrainer, hättet Ihr nicht weiter die Demütigungen und Verfolgungen des Diktatoren-Clans und die maßlos gierige Oligarchie weiter ertragen können? Musstet Ihr Euch zur Wehr zur setzen und Finanzen und Frieden gefährden?

Ressentiments gegen die Ukraine(r) begegnen uns alltäglich in erschreckendem Ausmaß. Europa zehrt längst nicht mehr von der großartigen Idee der Vereinigung der Völker, sondern verzehrt sich in Euroskeptizismus, Bürokratie, Folgen der Finanzkrise, in Normierungswahn. Ukraine, musst Du ausgerechnet jetzt an unsere Pforte klopfen? Unsere Menschen wollen gerade kein neues Griechenland, kein neues Ost-Deutschland mit Mega-Milliarden-Subventionsbedarf.

Eine kurze, schmerzlose Annexion durch Russland würde viele Probleme auf einen Schlag lösen! Wir müssten nicht mit Schein-Sanktionen den russischen Bären verärgern. Der russische Absatzmarkt der deutschen Wirtschaft würde sich auf wundersame Weise vergrößern, die Gaslieferungen wären sicher, der Frieden auch. Die Geschäfte könnten weiter blühen. Ukraine, willst Du dennoch wirklich frei selbst über Dein Schicksal entscheiden? Dich in Demokratie und Selbstbestimmung üben und nach westlichen Werten streben?

Auch wenn es nicht allen Europäern gefallen mag und Herrn Putin schon gar nicht: Die Ukraine ist mit einer Ost-West-Ausdehnung von über 2.000 km ein riesiges Stück Europa. Wir, im Club der sich selbst erwählten Europaverwalter, haben kein Recht der Ukraine einen Weg vorzuschreiben, denn: Die Ukraine ist Europa. Genauso wie wir. Rein zufällig liegt sie etwas östlicher.

Wenn wir die Ukraine und ihre Menschen jetzt, nachdem sie erstmalig eine wirkliche Chance erobert haben, sich vom Joch der Oligarchen, der Korruption und anderer Unannehmlichkeiten zu befreien, als Bittsteller vor unserer Pforte stehen ließen, wären all unsere Werte nur noch Schall und Rauch. Europa würde sich selbst in Frage stellen.

Doch in unseren Köpfen errichten wir schon Barrieren und Feindbilder. Europäer verleumden Millionen aufrechter, für Ihre Rechte und europäische Werte einstehende ukrainische Menschen, wenn unsere hirnlosen Gazetten geifern: „Faschistische Junta hat sich an die Macht geputscht“, „Nazis marschieren ins Parlament“ und das Publikum applaudiert. Das sind Volksverhetzung, Dummheit und Anmaßung in einem Umfang, dass es schon weh tut.

Ist diese „ukrainische“ Krise nicht viel mehr eine Krise unserer Köpfe, unserer Ideale, eine Krise unseres europäischen Traums? Wir tragen Mitschuld an der Eskalation, nicht nur wegen der fehlbesetzten außenpolitischen Vertretung Europas, viel mehr wegen des Verlustes unserer Ziele. Unsere täppische Herangehensweise an die ukrainische Assoziierung endete im unwürdigen Tauziehen mit Russland, dazwischen ein zum Zerreißen gespanntes Land. Im Ergebnis steht eine europäische, russische und ukrainische Krise.

Dem geostrategischen Ringen um Einbindung der Ukraine in die globalen Macht- und Einflusssphären wurden schon seit vielen Jahren die Interessen des Landes untergeordnet. Insbesondere Russland hat mit seiner Unterwanderung auf allen politischen und wirtschaftlichen Ebenen sowie den wirtschaftlichen Erpressungen eine destabilisierende Wirkung ausgeübt, die es hin zum Bankrott und nun auch in die Arme eines unvorbereiteten Europas getrieben hat. Aber die Göttin Europa steht nicht mit offenen Armen, sie verwehrt dem unerwartet bittstellenden Zögling die Brust, fürchtet sie doch sehr ihren scheinheiligen Freund im Mischka-Pelz, der die alles vernichten könnende Tatze schon zum Angriff gehoben hat, sollte der Zögling seinen Krallen entkommen.

Kann diese Krise überhaupt bewältigt werden? Europa plagen ökonomische Krisen, Spaltungs- tendenzen, Führungsschwäche, Skeptizismus. Ganz ähnlich die zusätzlich noch bankrotte Ukraine, die vom Skeptizismus noch verschont ist, solange dieser von einer enormen Aufbruchsstimmung und dem Willen zur Veränderung überlagert ist – aber wie lange noch? Und da ist der imperiale Anspruch der russischen Seite, dem zu entgegnen der Westen die passende Sprache bisher noch nicht gefunden zu haben scheint, obschon, das ist unsere Überzeugung, ohne die unerwartet entschlossene und einige Haltung zunächst des Weimarer Dreiecks, dann auch Europas und der USA, russisches Militär heute schon vor den Toren Kiews stehen würde.

Wir glauben dennoch fest daran, dass ungeachtet auch unserer Unvollkommenheit unsere europäischen Werte nicht nur leere Worte sind. Wir glauben daran, dass uns immer noch eine große Idee eint, die Chancen eröffnet, der Ukraine, und auch uns selbst. Entgegen dem allgemeinen Trend entwerfen wir diese Schlagzeile, die leider nie eine deutsche Zeitung drucken wird:

„Krise eröffnet Ukraine und Europa große Chancen für die Erneuerung und Erweiterung unseres gemeinsamen, europäischen Hauses“.

Pulverfass Russland

Bei der Bewertung der Vorgänge kann nicht beruhigen, dass Russland seit vielen Jahren weit arroganter, egoistischer und zielstrebiger in der Ukraine-Frage zu Werke gegangen ist als Europa, ganz im Gegenteil, die seit Jahren zu beobachtende Aggressivität im Rahmen vielfältiger Vereinnahmungsversuche muss außerordentlich beunruhigen.

Denn entgegen landläufiger Auffassung ist nicht die Ukraine das Pulverfass, sondern Russland. Die Ukraine war nur Vorwand, den vorübergehenden Waffenstillstand im Kalten Krieg zu beenden. Haben wir Europäer etwa bemerkt, dass die Ukraine ihre Atomwaffen vollständig abgerüstet hat gegen Russlands Versprechen, das ukrainische Territorium für immer unangetastet zu lassen, einschließlich der Krim? Russland dagegen sein Wort gebrochen hat? Seine Rüstungsausgaben in den letzten Jahren massiv erhöht hat? Und auch mit deutscher Hilfe seine Armee modernisiert?

Stehen etwa ukrainische Panzer und zehntausende ukrainische Soldaten an der Grenze eines anderen Landes, den Einmarschbefehl aus Kiew erwartend? Sind es ukrainische Medien, die kübelweise üble Hetze über ein Nachbarvolk und die europäischen Ideen entleeren? Sind es ukrainische Saboteure, die in Nachbarländer eindringen, um Anlässe für militärische Aktionen zu provozieren?

Hatten wir in Europa so tief geschlafen, als Politologen wie Andreas Umland schon vor Jahren die möglichen Szenarien bevorstehender Annexion der Krim durch Russland beschrieben haben?

Sind wir der unsinnigen Phrase vom „Wandel durch Handel“ so sehr verfallen, dass wir die Tatze des Bären aus den Augen verloren haben? Erleben wir in Russland nicht schon seit Jahren einen zunehmenden Verfall demokratischer Werte, aufkommende neofaschistische Ideologien, wiedererwachende Feindbilder und sich häufende Rückfälle in geistige und politische Schemata der verflossen geglaubten Sowjetunion? Ist dieser Wandel dem wachsenden Handel mit Deutschland zu verdanken, unserer zunehmenden Abhängigkeit? Hat nicht vielleicht auch die energetische Abhängigkeit Deutschlands den nach der Implosion der Sowjetunion zunächst ausgeträumten imperialen Traum wieder zu einem festen Bestandteil russischen Selbstverständnisses werden lassen?

Wem helfen Finanzhilfen?

1998 war Russland in ökonomisch ähnlicher Situation wie die Ukraine heute, pleite. Ungeachtet dessen hatten Spekulanten, u.a. LTCM, einst einer der weltgrößten Hedge-Fonds, noch auf russische Ramschanleihen gewettet, in der Erwartung, der Westen werde Russland helfen. In Folge des unerwarteten Schuldenmoratoriums vom August 1998 ging LTCM die Luft aus und musste schließen.

Franklin Templeton ließ sich in 2013 feiern, für 5 Mrd. $ ukrainische Staatsanleihen gekauft und darauf gewettet zu haben, dass der IWF in der Ukraine – anders als seinerzeit in Russland – einspringen werde. Anfang 2013 reiste eine ukrainische Delegation nach Kalifornien in die Templeton-Zentrale, angeblich um Garantien für diesen Deal abzugeben. An der Spitze der Delegation standen der damalige Vizepremier Serhij Arbusow und Juri Kolobow, von Wiktor Janukowytsch berufener Finanzminister. Selbiger Herr Kolobow rief nun als erster kommissarischer Finanzminister der Übergangsregierung kürzlich nicht nur den IWF um Hilfe, sondern auch gleich nach einer großen Geberkonferenz für angeblichen Finanzbedarf von 35 Mrd. $, so als hätte das alles ein vorgeschriebenes Drehbuch. Herr Kolobow wurde zwischenzeitlich abgelöst.

Europäische, vor allem österreichische und italienische Banken sind in der Ukraine mit ca. 23. Mrd. EUR engagiert. Die UniCredit prognostizierte für den Fall des ukrainischen Staatsbankrotts Verluste in Höhe von 5 Mrd. € Schwer zu verkraften, nachdem sie bereits für 2013 einen Verlust von 14 Mrd. EUR vermelden musste und zudem noch auf einem unübersichtlichen Berg von italienischen und sonstigen Ramschpapieren sitzt. Sie gilt als „systemrelevant“, weswegen Steuerzahler – gleich ob ukrainische oder europäische – für alle Fehlspekulationen aufkommen werden.

Wenn ganze Länder hinsichtlich ihrer finanzpolitischen Fortentwicklung auf Wege getrieben werden, die durch eine (warum auch immer) deregulierte Finanzindustrie und nicht durch Kriterien menschlicher Vernunft vorgegeben werden, fragt man sich, ob der Terminus „Systemrelevanz“ überhaupt gelten kann, wir nicht eigentlich von „Systemdominanz“ sprechen müssten.

Wir haben nichts gegen Finanzhilfen, ganz im Gegenteil, doch sollten sie der Ukraine und den Menschen dort helfen, nicht den Gläubigern, die sich verzockt haben.

Der Staatsbankrott

Russland, jetzt selbst stark in der Ukraine finanziell engagiert, hat 1998 erfolgreich den Weg eines Schuldenmoratoriums gewählt. Es folgten Jahre der Prosperität, wie sie Russland nie zuvor erlebt hatte.

Dr. Heribert Dieter schrieb zur Frage, ob sich Volkswirtschaften, wenn sie sich zahlungsunfähig erklären, zwangsläufig in eine ökonomische Krise stürzen:

„Das ist möglich, aber nicht zwingend. Ob Staaten nach der Bankrotterklärung in eine ökonomische Krise stürzen, hängt davon ab, ob sie die Zahlungsunfähigkeit dazu nutzen, ihren Schuldenstand auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren und neue Investitionen zu ermöglichen. Es gibt in der jüngeren Vergangenheit zwei Beispiele für anhaltende wirtschaftliche Aufschwungphasen nach Staatsbankrotten.

Russlands Zahlungsunfähigkeit im Jahr 1998 markiert das Endes des wirtschaftlichen Niedergangs und den Beginn einer bis zur Subprime-Finanzkrise andauernden Aufschwungphase. Während die Wirtschaftsleistung Russlands unmittelbar nach dem Staatsbankrott gerade noch derjenigen Belgiens entsprach, ist sie danach rasch angestiegen. 1999 betrug die russische Wirtschaftsleistung laut Weltbank gerade noch 196 Milliarden Dollar, 2008 hingegen 1680 Milliarden Dollar. Seit dem Staatsbankrott hat sich die russische Wirtschaftsleistung also mehr als verachtfacht. Ebenfalls positiv verlief die Entwicklung Argentiniens, das nach der Erklärung der Zahlungsunfähigkeit in eine Phase hohen Wirtschaftswachstums eintrat. Während die argentinische Wirtschaft in den Jahren von 1998 bis 2002 schrumpfte, stieg die Wirtschaftsleistung nach der Einstellung der Zahlungen an Argentiniens Gläubiger deutlich an. Von 2003 an wuchs die argentinische Wirtschaft mit Jahresraten von neun Prozent, die Wirtschaftsleistung stieg von 102 Milliarden in 2002 auf 328 Milliarden Dollar im Jahr 2008.“

Ein geordneter Staatsbankrott in der Ukraine wird gar nicht erst diskutiert, noch nicht einmal ein Schuldenschnitt. Es wird in Finanzkreisen und den weltweit willig folgenden politischen Gremien ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass Interessen der Gläubiger über denen des Schuldnerlandes und seiner Bewohner stehen. In dieser Frage sind sich Europa, USA, China und Russland erstaunlich einig, solange es um den Schutz der Banken und Hedgefonds geht.

IWF und Gaspreis

Die Ukraine zahlt seit vielen Jahren die mit Abstand höchsten Gaspreise der Welt (an Russland). Jeder Versuch, diesem ökonomisch strangulierenden Programm zu entkommen wurde von russischer Seite mit wirtschaftlichen Erpressungen des „Brudervolkes“ gekontert („Gaskriege“).

Diese führten nicht zu westlichen Appellen an Russland, einen angemessenen Gaspreis zu verlangen, sondern zu Ermahnungen an die Ukraine, ihren Verpflichtungen gegenüber Russland nachzukommen, damit die westeuropäische Gasversorgung nicht beeinträchtigt würde (die zum Teil über das Territorium der Ukraine erfolgt).

Mit dem gewichtigen Volumen des europäisch-russischen Handels wäre es sicher möglich, Russland an einen „runden Gastisch“ zu bringen und angemessene Gaspreise für die Ukraine zu verhandeln, gäbe es da nicht auch diesen Aspekt: Gazprom hat sich seit Jahren mit erheblichen „Investitionen“ den Rückhalt eines beachtlichen Teils der deutschen Politikerelite gesichert, um die Geschäfte und die mittlerweile beängstigende Ausdehnung im deutschen Energiemarkt ungehindert ausweiten zu können. Da wollen wir besser nicht stören!

Auf die ukrainischen Gasimporte satteln diverse Zwischenhändler (Gazprom, RosUkrEnergo, Vekselbergs KES-Holding, Gazprom Germania, Firtash’s Ostchem u.a.) auch noch ihre üppigen Margen auf, in der Folge ist Gas für viele Endkunden unbezahlbar, was den Staat veranlasste, den Preis massiv zu stützen.

Seit vielen Jahren verlangt der IWF diese Subventionen zu verringern bzw. abzuschaffen, jetzt ist er am Ziel. Die Gaspreise werden demnächst für die Endverbraucher massiv steigen, die linke Tasche des Staatshaushaltes wird tatsächlich entlastet werden. Doch Gas wird für viele Menschen unbezahlbar, weswegen die Regierung nun Stützungen der Endverbraucher einführen will, was die rechte Tasche des Staatshaushaltes wieder belasten würde. Absurd.

Die Heilung des kranken Systems kommt dem IWF nicht einmal ansatzweise in den Sinn.

Es wäre unbequemer, aber wesentlich sinnvoller, zunächst den Sumpf des außerordentlich profitablen Zwischenhandels auszutrocknen, statt dem „kleinen Mann“ in die Tasche zu fassen. Die zwangsläufige Kaufkraftschwächung der Bevölkerung wird die wirtschaftliche Krise weiter verschärfen und die politisch-gesellschaftlichen Strukturen weiter destabilisieren – was man dann der Unfähigkeit einer zukünftigen ukrainischen Regierung anlasten wird. Die Interessen der Zwischenhändler bleiben hingegen unangetastet.

Schon seit Jahren versucht sich der IWF nicht etwa an der Gesundung des Systems, sondern an der Heilung von Symptomen – mit der Geldpumpe. In dem von Jürgen Roth im Dezember 2013 veröffentlichten BND-Dossier über den ukrainischen Gasmarkt wird beschrieben, wie IWF-Kredite am Ende als Gewinne auf den Oligarchen-Konten landen.

Treffender als Gernot Erler („Das organisierte Verhängnis. Die Politik des Internationalen Währungsfonds gegenüber Russland“) kann man die Wirkungsmechanismen der vom IWF stereotyp an Kreditvergaben gebundene Bedingen kaum beschreiben:

„Der Währungsfond setzt überall auf der Welt auf dasselbe “Standardmodell”, wie ein Arzt, der jedem Patienten dasselbe Rezept verschreibt, egal welche Krankheit ihn plagt. Das Credo heißt “freie Märkte, freie Preise”, koste es, was es wolle.“

„Der IWF greift damit tief in die nationale Politik und die Souveränität der von ihm unterstützten Länder ein. Führt ein Kredit nicht zur schnellen Lösung der Ausgangsprobleme, bringt er das Nehmerland über neue Kredite und Rückzahlungspflichten in eine wachsende Abhängigkeit.“

Die Frage, ob solche Finanzhilfe die richtige ist, muss erlaubt sein. Und erneut auch die Frage nach einem Staatsbankrott.

Die ukrainischen Gasschulden – gibt es sie wirklich?

Im April 2010 verlängerten Russland und Ukraine den Pachtvertrag für die Schwarzmeerflotte bis 2042, im Gegenzug sollte der Gaspreis von damals 330 $ Dollar auf 230 $ / 1.000 m³ Gas sinken (ZEIT ONLINE, 21.04.2010) und hierüber eine zusätzliche Vereinbarung getroffen werden, die jedoch nie zustande kam.

Eine Änderung der Gasverträge gab es nur in der russischen Propaganda. Im Dezember 2013 gewährte Russland der Ukraine als „Belohnung“ für die Abkehr vom Assoziierungsabkommen mit der EU vorübergehend einen Nachlass auf den Gaspreises von damals knapp über 400 $ auf 268,50 $. (Newsletter 63 Deutsche Beratergruppe 01/2014).

Naftogaz Ukraina musste also all die Jahre wesentlich mehr für russisches Gas bezahlen als in 2010 zugesagt, der Preis stieg sogar von 330 $ Anfang 2010 auf über 400 $ in 2013.

Der Verdacht, bei den vorgeblichen Schulden handele es sich um eine Erfindung russischer Propaganda, wird genährt durch eine Meldung der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti vom 23.10.2013, der zufolge die Ukraine das Gas überzahlt habe. Sie zitiert den damaligen ukrainischen Premier Mykola Asarow, der von einer Überzahlung in Höhe von insgesamt 20 Mrd. $ (!) seit 2010 ausging, was RIA Novosti nicht einmal dementiert hat.

Destabilisierung durch Gas und anderes

Seit vielen Jahren erfolgt eine russische Unterwanderung der Ukraine auf den Ebenen der Politik, der Wirtschaft und der inneren Sicherheit. Dieser Prozess wurde in Europa kaum wahrgenommen. Heute erweist sich der staatliche Sicherheitsdienst SBU, einst übergangslos aus dem KGB hervorgegangen, gerade im Osten des Landes als zuverlässiger Wasserträger russischer Interessen. Die Stützpunkte des SBU werden mit schon geöffneten Waffenkammern an russische Provokateure und bezahlte prorussische Milizen übergeben, viele der SBU-Offiziere sollen für den russischen FSB arbeiten. Im Innenministerium, das für die Sicherheit des Landes sorgen sollte, bleibt es auch jetzt, wie auch schon während der Annexion der Krim, erstaunlich ruhig. Ukrainische Kommentatoren sprechen davon, dass es auch dort nur so von FSB-Spitzeln wimmele, die den Apparat regelrecht lähmen.

Insofern hat Putin Recht, wenn er sagt, im Osten der Ukraine gäbe es keine Agenten russischer Geheimdienste. Deren Rolle nehmen der SBU und unterwanderte ukrainische Behörden dienstbeflissen wahr.

Dieser Gefahr müssen sich Ukrainer und Europäer bewusst werden, dass, neben den der NATO jetzt bekannt geworden Plänen Russlands, die gesamte Ukraine militärisch zu annektieren, eine Annexion durch Infiltrierung, Manipulation und Unterwanderung schon seit Jahren im Gange ist.

Die „Gaskriege“, sowie viele weitere Konflikte auf wirtschaftliche Ebene, waren keine „Kriege“, auch wenn dies immer wieder so behauptet wird. Zu einem Krieg gehören sich bekämpfende Parteien. Es handelte sich immer um einseitige, russische Bestrafungsaktionen mit dem Zweck der Fremdsteuerung der Ukraine.

Gas als Waffe, als Instrument von Sanktionen. Dessen müssen wir uns in Europa endlich bewusst werden, dass Russland dieses Mittel seit Jahren immer wieder gegen das eigene „Brudervolk“ eingesetzt hat und nicht davor zurückschrecken wird, dieses Instrument auch in Europa – allen Beschwichtigungsversuchen der Gasmänner Schröder, Voscherau und Miller zum Trotz – für die Umsetzung eigener Interessen nutzen wird. Unsere polnischen Nachbarn wissen das längst, sie haben uns oft genug gewarnt, und bauen zur Diversifizierung der Energieversorgung das Flüssiggasterminal in Swinoujscie.

Doch auf den Rat eines östlichen Nachbarn zu hören ziemte sich in der Wirtschaftsmacht Deutschland offensichtlich nicht.

Alternative Finanzierungsquellen

Neben einem Staatsbankrott, zumindest einem deutlichen Schuldenschnitt, müssen auch weitere Möglichkeiten der Finanzierung der staatlichen Aufgaben in Erwägung gezogen werden. Schätzungen zufolge wurden in jedem der vergangenen Jahre mindestens 10 Mrd. $ von Oligarchen aus der Volkswirtschaft abgezweigt und außer Landes gebracht. Eine Zwangsabgabe hierauf und auf alle Privatisierungsvorgänge ehemalig staatlichen Eigentums (die fast ausnahmslos zum Nachteil der öffentlichen Hand erfolgten) in einen staatlichen Fond könnte viele Milliarden einbringen. Doch ein Parlament, in dem lediglich eine kleine Minderheit nicht als Wasserträger der oligarchischen Macht ausgemacht werden kann, hat wohl kaum die Eignung und schon gar nicht den Willen, in dieser Richtung legislativ tätig zu werden.

Auch das Eindämmen der Schattenwirtschaft wird unverzichtbar für die wirtschaftliche Stabilisierung sein. Mindestens 50% der gesamten Wirtschaftsleistung entzieht sich im Schatten fiskalischer Strukturen allen Abgaben und Steuern. Hieran ist fast jeder ukrainische Bürger in irgendeiner Form beteiligt, und es wird eine der schwersten Aufgaben zukünftiger Regierungen sein, ein Bewusstsein für Steuerehrlichkeit zu entwickeln, was ohnehin zum Scheitern verurteilt wäre, sollten oligarchische Strukturen nicht alsbald zerschlagen werden, sondern weiter Vorbild sein für den Erfolg von Korruption, Betrug und Unterschlagung.

Was die Bekämpfung des Oligarchentums betrifft, wird sich die Ukraine nicht auf europäische Unterstützung verlassen können. Wir haben uns mit den Protagonisten schon bestens arrangiert.

Die Oligarchen sind unter uns

Der russisch-ukrainische Oligarch Viktor Vekselberg (KES-Holding) verdient u.a. als Zwischenhändler von Gas in der Ukraine, auch in einem gemeinsamen Unternehmen mit der russischen Gazprom. Vekselberg ist Großaktionär mehrerer Schweizer Unternehmen (Sulzer, OC Oerlikon).

Für Vekselberg-Unternehmen arbeiten u.a. Peter Löscher (ehemals Siemens) und Josef Ackermann (ehemals Deutsche Bank). Wenn sich die Eliten unseres Globus alljährlich zum Weltwirtschaftsforum in Davos treffen, sitzen auch Bundeskanzlerin, Bundesminister und Wirtschaftskapitäne an von Vekselberg gedeckten Tischen, der das Forum mit gewaltigen Summen sponsert.

Der zweitreichste Oligarch der Ukraine, Igor Kolomoisky (Präsident der Europäischen Jüdischen Union und seit 02.04.2014 auch Gouverneur des Oblast Dnepropetrovsk) betreibt den Nachrichtenkanal JN1 in Brüssel.

Igor Kolomoisky ist auch Gesellschafter der Central European Media Enterprises des amerikanischen Magnaten Ronald Stephen Lauder, der in Europa Dutzende TV- und Radiokanäle gehören. Lauder wiederum ist auch Präsident des New Yorker Museum of Modern Art und seit Juli 2007 Präsident des Jüdischen Weltkongresses (WJC).

Der Oligarch Boris Fuchsmann, ukrainischer Medienmogul, gibt sich, in Düsseldorf lebend, als Philantrop und Kunstmäzen aus. Seine in Düsseldorf ansässige Innova Film GmbH wurde bereits in den 1990iger Jahren vom CIA als Geldwäscheinstrument für die russische Mafia ausgemacht.

Mit seinem Partner Alexander Rodnyansky war und ist Fuchsmann in verschiedenen Firmen verbunden. Rodnyansky produzierte 2012 Billy Bob Thornton’s Hollywood-Film “Jayne Mansfield’s Car” und hat auch schon für das ZDF gedreht, unter anderem „Gagarin, ich habe dich geliebt“.

Fuchsmanns Bauträgergesellschaft NAT baut gerade in Düsseldorf-Oberkassel das pompöse „Parkpalais“ und verkauft luxuriöse Eigentumswohnungen.

Wirtschaftsverbrechen der Oligarchen

Es gibt eine Vielzahl von Beispielen, wie die Oligarchen im Zusammenspiel mit der korrupten Bürokratie das Land ausgeplündert haben, hier ein Beispiel, das zeigt, wie gewaltige Profite generiert wurden und warum auch eine strafrechtliche Verfolgung dieser Vorgänge zukünftig unerlässlich sein wird:

Die Ukraine gehört mit rund 5% der weltweit getätigten Exporte zu den weltgrößten Getreideexporteuren – und blieb dennoch arm.

Vorgeblich zum Schutz des heimischen Marktes erließ die ukrainische Regierung Exportquoten für Getreide, was auf den ersten Blick vernünftig erscheint, jedoch nachfolgend beschriebenen und offensichtlich beabsichtigten Mechanismus in Gang setzte:

Die meisten Erzeuger und Zwischenhändler erhielten von der Regierung keine Exportgenehmigung. So stürzten wegen des Überangebotes und wegen fehlender Läger die Preise auf dem Binnenmarkt unter das Niveau der Selbstkostenpreise ab.

Für die Getreideernte in 2010 wurde der größte Teil aller Exportquoten dem Unternehmen Khlib Investbud zugeteilt, das zunächst mit einem 49%igen Anteil des ukrainischen Staates gegründet worden war und insofern den Anschein erwecken sollte, der Staat habe Nutzen daran. Doch diese und weitere Geschäftsanteile wechselten rasch an das mit 2.500,– EUR Kapital gegründete zypriotische Offshore-Unternehmen Aldzas Investments Ltd., zuletzt 98%iger Anteilseigner. Dessen

Hintermänner sind unbekannt, werden aber vermutet im Donezk-Clan von Rinat Achmetow, der seine Karriere als Chef einer Hütchenspielerbande in der schönen Olympiastadt Sotchi begann und viele Leichen später in der schönen Olympiastadt London eine Eigentumswohnungen für 156 Mio € erworben hat.

Khlib Investbud konnte als quasi Monopol-Exporteur das Getreide billigst aufkaufen und realisierte mit dem Verkauf einer einzigen Ernte auf dem Weltmarkt – ohne jegliche Wertschöpfung – einen märchenhaften Gewinn von ca. 700 Mio $. Den ukrainischen Erzeugern sind dagegen Einnahmeausfälle in Höhe von 1,9 Mrd. $ entstanden, auch weil ein Teil der Ernte verrottete, was viele in existenzielle Krisen stürzte.

(Quellen: Bundeszentrale für politische Bildung, Analyse 2012-05-14; The Ukrainian Week, 2011-02-23; Anticorruption Action Center, 2012-02-29).

Die Rolle der Medien und der Antisemitismus

Während deutsche Medien umfänglich berichten, ein gewisser Darth Vader kandidiere für die ukrainischen Präsidentschaftswahlen, müssen wir ukrainische Kanäle bemühen, um zu erfahren, dass auch Olga Bohomolets kandidiert. Diese Ärztin, Vertreterin der ukrainischen Intellektuellen und der Zivilgesellschaft, die sich um den medizinischen Dienst des Euromaidan verdient gemacht hat, stand in Zentrum eines Abhörskandals, demzufolge die demonstrierende Opposition selbst die Scharfschützen angeheuert hatte, um Demonstranten zu töten.

Der eigentliche Skandal hinter dieser Geschichte kümmerte niemanden, nämlich, dass die Telefone europäischer und amerikanischer Spitzenpolitiker ganz offensichtlich von russischer Seite rund um die Uhr abgehört werden, so, als hätte uns der amerikanische Abhörskandal immun gegen derartige Vorkommnisse gemacht.

Wie sich viele unsere Medien auf den Inhalt russischer Propaganda stürzen und diesen als Nachrichten verbreiten, ist beschämend. Nehmen wir als Beispiel die permanente, bis heute nachklingende Unterstellung antisemitischer Tendenzen innerhalb der Opposition:

Am 24.01.2014, also noch vor dem Umsturz, haben der Rat jüdischer Frauen in der Ukraine und das Medienprojekt „Das jüdische Kiew“, vertreten durch Eleonora Großmann, einen offenen Brief an den damaligen Präsidenten Janukowytsch und Innenminister Sachartschenko verfasst, in dem sie sich über offenen Antisemitismus auf der offiziellen Facebook-Seite der Berkut-Einheiten beklagen und den Umstand, dass gepostete Inhalte vornehmlich von regierungstreuen Personen des öffentlichen Lebens „geliked“ wurden. Es heißt unter anderem:

„Wir sind der Meinung, dass die sogenannten „Bildungszwecke“ der Spezialeinheit Berkut-Ukraine im sozialen Netzwerk Facebook das Ziel haben, den Hass gegen die Juden als Schuldige an allen Missständen des Landes, Volksverhetzung und Aufruf zur Gewalt gegen die Juden in der Bevölkerung zu provozieren. All das kann zu gewalttätiger Aggression gegen die Juden und Pogromen führen“.

Jüdische Kreise waren sich schon zu diesem Zeitpunkt einig, dass Antisemitismus nicht von der Opposition, sondern allein von den Vertretern der alten Regierung geschürt wurde.

Am 24.02.2014 veröffentlichte der Präsident des All-Ukrainischen Jüdischen Kongresses, Wadym Rabynowytsch, eine Erklärung, in der es u.a. heißt:

„Ich möchte noch einmal wiederholen: Selbst in der schwierigen Zeit des zivilen Widerstands entbehren Behauptungen über schwere Fälle von Antisemitismus in der Ukraine jeglicher Grundlage! Deshalb wehre ich mich kategorisch gegen die in einer Reihe ausländischer Medien erschienenen, der Realität nicht entsprechenden Berichte von massenhaftem Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit in der Ukraine!“

Auch hiervon nahmen westliche Medien keine Notiz.

Und wir zitieren einen Artikel von Moritz Gathmann vom 03.04.2014 aus der Wochenzeitschrift „Jüdische Allgemeine“:

„Vergangene Woche erschien in der New York Times, in Haaretz und in Canada’s National Post ein ganzseitiger Offener Brief der ukrainischen Juden an Wladimir Putin. Darin beschuldigen sie den russischen Präsidenten, »bewusst Lügen und Verleumdungen aus der großen Anzahl von Informationen über die Ukraine« herauszugreifen. Die Unterzeichner wüssten, dass zur politischen Opposition nationalistische Gruppierungen gehören, »aber sogar die marginalsten von ihnen wagen es nicht, Antisemitismus oder anderes fremdenfeindliches Verhalten zu zeigen«.

Zudem würden diese von der Zivilgesellschaft und der neuen Regierung kontrolliert. In ihrem Appell greifen die Unterzeichner auch Putin an: In Russland würden »Neonazis von den Geheimdiensten unterstützt«, und Putin persönlich sei es, der die politische Stabilität in der Ukraine bedrohe.

Unterzeichnet ist der Brief von wichtigen Vertretern der jüdischen Gemeinde im Land, darunter Josef Zissels, Vorsitzender der jüdischen Gemeinden und Organisationen, und Alexander Gaidar, Vorsitzender des Verbandes der ukrainischen progressiven jüdischen religiösen Gemeinden.“

Moritz Gathmann verweist noch darauf, dass der offene Brief schon Anfang März veröffentlicht worden war, aber keinerlei Resonanz im Ausland erfahren hatte. Die erwähnte Veröffentlichung erfolgte dann durch ganzseitige Anzeigen, die von einer jüdischen Organisation in Kanada initiiert wurden.

Die meisten deutschen Medien beharren jedoch auf ihrer von der russischen Propaganda genährten Auffassung, der Antisemitismus sei tief in der ukrainischen Opposition verwurzelt.

Es ließe sich hier noch eine Vielzahl derartiger medialer Verzerrungen anführen, die in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft Missstimmungen gegen die Ukraine und ihre Menschen schüren.

Warum hören wir kaum die vielen Stimmen, die in der Ukraine am Puls des Geschehens mit eigenen Augen sehen, mit eigenem Verstand reflektieren, warum hören wir meist nur die verleumderische Stimme der russischen Staatsmedien?

Die „Ukraine-Nachrichten“, die wir dem Freizeit-Engagement des in der Ukraine tätigen Journalisten Andreas Stein verdanken, lassen weit abseits vom medialen Mainstream ukrainische Journalisten und Kommentatoren zu Wort kommen. Das interessiert im Lande Goethes und Schillers nur einige tausend Leser. Schade.

Sanktionen

sind, so dachten wir immer, gesellschaftlicher Grundkonsens. Im Strafrecht gehören Strafandrohung und Strafe zu den selbstverständlichsten Maßnahmen der Prävention und Wiederherstellung des Rechtsfriedens. Im Sozialrecht werden Verstöße mit Leistungskürzungen sanktioniert, im Zivilrecht sind Vertragsstrafen gängige Sanktion. Ohne Sanktionsmöglichkeiten der Gemeinschaft gegen Einzelne wäre der Anarchie Tor und Tür geöffnet, jeder könnte nach Lust und Laune bei Rot über die Ampel fahren, Nachbarn erschießen, Steuern hinterziehen und Häuser anzünden.

Sanktionen kosten Geld, Legislative und Exekutive verursachen Kosten in vielfacher Milliardenhöhe. Allein der deutsche Strafvollzug kostet ca. 7 Mio € täglich, 2,5 Mrd. € jährlich. Warum leisten wir uns diesen gewaltigen Aufwand? Weil wir keine Anarchie wollen.

Auch die Wirtschaft könnte in einer Anarchie nur schwerlich funktionieren, obschon viele Deutsche Unternehmen jetzt Sanktionen gegen Russland ablehnen. Dieselben Unternehmen verklagen vor Gerichten andere Unternehmen oder Kunden, die nicht zahlen. Und verlangen wirtschaftliche Sanktionen gegen den jeweiligen Prozessgegner, weil dieser sich nicht an die Regeln in Form des geltenden Rechts gehalten habe. Wo immer sie können, nutzen sie die Möglichkeiten der

Sanktionierung und die hierfür geschaffenen Rechtsgrundlagen. Völkerrecht hingegen halten viele Unternehmen nicht für verbindlich geltendes Recht, sondern lediglich für gewinnstörend, weswegen Verstöße auch keine Sanktionen zur Folge haben dürften.

International gesehen ist in den Augen vieler Unternehmen Anarchie also „rechtens“, momentan zumindest. Diese Sichtweise würde sich dramatisch ändern, sollte der russische Staat analog zur Krim Vermögenswerte deutscher Unternehmen beschlagnahmen (annektieren). Dann würden sie rasch nach dem Staat rufen und Sanktionen verlangen.

Die Rufe aus der Wirtschaft, auf Sanktionen gegen Russland zu verzichten, kommen aus denselben durstigen Kehlen, die einst die Deregulierung der Finanzmärkte forderten – in der Folge erlebten wir eine Finanzkrise mit schwersten Verwerfungen für die Weltwirtschaft und die Demokratie.

Das Assoziierungsabkommen und die Risiken des Scheiterns

Der jahrelange Schlingerkurs der EU in der ukrainischen Frage, das groteske Schauspiel eines Tauziehens mit der zunehmend imperial beseelten russischen Föderation, die naive Annahme, die Ukraine könne ohne wirtschaftliche, politische und militärische Konsequenzen aus der russischen Interessenssphäre herausgelöst werden haben entscheidend zur europäisch-russisch-ukrainischen Krise beigetragen und die Welt an den Rand eines Krieges getrieben, der, sollte das russische Pulver explodieren, nur geringe Chancen haben dürfte, territorial begrenzt zu bleiben.

Europa muss seiner Verantwortung in dieser Krise gerecht werden. Zwar werden uns täglich einige Hundert (meist bezahlte) prorussische Demonstranten in der Ostukraine medial vorgeführt, doch die überwiegende Mehrheit der ukrainischen Menschen will um jeden Preis aus jeglicher russischen Umklammerung heraus und sich Europa zuwenden. Europa muss sich öffnen und der Ukraine klare Perspektiven geben, auch für einen Beitritt in die EU. Alles andere birgt enorme Risiken, das Land in ein Chaos zu stürzen. Millionen Menschen, die für europäische Werte und Annäherung gekämpft haben, würden enttäuscht ihre Orientierung verlieren, sich radikalisieren und gerade im Osten noch anfälliger für russische Propaganda werden. Ein Zerfall des Landes mit der Wahrscheinlichkeit von Bürgerkriegen wäre wohl unausweichlich, wir hätten für Jahrzehnte einen Krisenherd mit 40 Millionen potenziellen Armutsflüchtlingen unmittelbar vor unserer Haustür, dessen wir nicht mehr Herr würden.

Die derzeit zahlenmäßig größte Gruppe der Asylantragsteller in Deutschland (Erstanträge) kam in 2013 mit fast 15.000 Antragstellern aus der Russischen Föderation, nicht zufällig aus dem Rechtsnachfolger der Sowjetunion. Das würde sich schnell „zugunsten“ der Ukraine ändern, allerdings müsste mit hunderttausenden Anträgen jährlich gerechnet werden.

Das Assoziierungsabkommen ist ein Beginn für wirkliche Verbesserungen. Handwerkliche Fehler im wirtschaftlichen Teil des Entwurfs, der im November 2013 in Vilnius zur Unterzeichnung vorlag, müssen ausgeräumt werden. Der gleichberechtigte Freihandel, wie im Entwurf noch vorgesehen, hätte der ukrainischen Wirtschaft wegen ihrer geringen Wettbewerbsfähigkeit erheblichen Schaden zugefügt, EU-Produkte hätten ukrainische Produkte vom Markt gedrängt. Der damals noch künstlich gestützte Kurs des Griwna hätte Exporte verteuert und in Europa schwer verkäuflich gemacht.

Einseitige Zollbefreiungen für ukrainische Exporte in die EU, die jetzt bereits vereinbart wurden, sollten unbefristet gelten, damit ukrainische Exporteure in der Lage sind, nachhaltige Vertriebskanäle in Europa aufzubauen, in die zunächst auch erst einmal investiert werden muss.

Wir hoffen sehr, in Deutschland bald ukrainische Bauerntomaten und vieles mehr kaufen zu können. Derart schmackhaftes Gemüse sollte hierzulande jeder probieren können. Den Brüsseler Normierungs-Bürokraten rufen wir zu, Tomaten endlich Tomaten sein zu lassen. Wie sie schmecken und aussehen sollten, wissen ukrainischen Bauern weit besser!

„Visapflicht für alle“

wäre eine ziemlich alberne, aber gerechte Forderung. Seit vielen Jahren dürfen wir ungehindert und frei von Visazwängen in ein Land wie die Ukraine reisen, dem wir allerlei Schlechtes zum Vorwurf machen, wie mangelnde Freiheiten, Korruption, Behördenwillkür. Europa hingegen zeigt sich nicht so tolerant und behindert diejenigen ukrainischen Menschen in ihrer (Reise-) Freiheit, die sehen und lernen wollen, denen wir zeigen wollen und zeigen sollten, wie funktionierende Zivilgesellschaften zur Demokratie und Prosperität eines Landes beitragen, welche Auswirkungen unsere vielzitierten „Werte“ auf unser alltägliches Leben haben, wie ein gesellschaftliches Leben mit selbstverständlich gewordenen Menschenrechten funktionieren kann, in Ländern, in denen sich gesetzlich verbriefte Rechte an im wahrsten Sinne des Wortes „ordentlichen“ Gerichten einklagen lassen, in denen eine Gewerbeanmeldung, eine beliebige behördliche Bescheinigung ohne Schmiergeld zu erlangen möglich sind…

Also erbitten wir von Europa schnellstmöglich:

Visafreiheit für alle!

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